
Sonja Barthel - Wir werden dich nicht vergessen!
Unsere Mitstreierin Sonja Barthel ist wenige Tage nach ihrem 105. Geburtstag gestorben.
Seit 77 Jahren kämpfte sie als Mitglied der VVN-BdA-Lüneburg gegen Faschismus und Krieg.
Am 8. Mai ehrten wir Sonja im Zusammenhang mit ihrem 105. Geburtstag bei der Feier zur Befreiung vom Nationalsozialismus mit einer Rede:
„Am selben 17. April 1917, als Wladimir Lenin im fernen Petrograd die sogenann-ten April-Thesen vortrug (nämlich die Errichtung einer Republik auf Basis der Sowjets) und in Stockholm sich deutsche Sozialdemokraten mit Mitgliedern des russischen Arbeiterrates trafen, um über die Beendigung des Krieges zu beraten, wurde in der Berliner Teutonenstraße ein Mädchen geboren. Ihre Eltern gaben ihr einen seinerzeit recht ungewöhnlichen Namen, einen russischen. Nicht ohne Grund, denn beide lebten für die sozialistische Idee, Vater aus deutschnationalem Beamten-Elternhaus, Mutter aus dem jüdischen Besitzbürgertum. Sie hofften auf den Sieg der russischen Revolution und auf eine baldige Beendigung des 1. Weltkrieges. „Sonja“ wurde das kleine Wesen benannt, „die Wissende und Weise“, „die Träumerin“, „die für die Wahrheit Kämpfende“.
Vielleicht auch ein Omen für ihren späteren Lebensweg:
Eine „Träumerin“ war sie ihr Leben lang, nämlich träumend von einer besseren Welt ohne Krieg, Ungerechtigkeit und Armut. Und sie versuchte, ihre Träume Realität werden zu lassen. Wie etwa als junge Au-Pair-Frau 1936 in London, als sie in einem Rekrutierungsbüro vorstellig wurde in der Absicht, nach Spanien zu gehen, um die dort gegen Franco kämpfenden Antifaschisten:innen tatkräftig zu unterstützen. Zum Glück wurde sie nicht angenommen. Und auch für die Wahrheit kämpfte sie ihr Leben lang, als Mitglied der VVN, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, auch der SPD und in der Lüneburger Geschichtswerkstatt.
Aus der SPD trat sie 1999 wieder aus, als diese Partei den Krieg gegen Jugoslawien unterstützte, was mit ihrer antifaschistischen Haltung nicht zu vereinbaren war.
Neben diesen charakteristischen Eigenschaften besaß Sonja noch was, nämlich jede Menge „Massel“. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie als „Halbjüdin “ den Nazis immer wieder ein Schnippchen schlagen konnte und das dazugehörige riesige Quäntchen Glück hatte, um 1939/40 unentdeckt im Frankfurter Hochhaus der IG- Farben zu arbeiten (ausgerechnet dort!), anschließend bei dieser Firma in Belgien und dann noch in Berlin die Gestapo-Vorladungen zu überstehen.
Sonjas zweites Leben begann mit der Befreiung im Mai 1945, Pädagogik-Studium und Lehrtätigkeit in Berlin, Umzug nach Lüneburg – der Liebe wegen. Hier nochmaliges Studium an der provisorischen PH. Erschüttert war sie, als sie erkennen musste, dass hier Teile der Studierenden und Dozent:innen ihr faschistisches Gedankengut nicht abgelegt hatten. Entsetzt stürzt sie einmal aus der Musikstunde, als „Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen“ angestimmt wurde. Sie gründet mit Kommilitoninnen den „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ SDS.
Ihr weiterer Berufsweg: Arbeit an einer zweiklassigen Volksschule in Lüneburg- Ochtmissen, bis sie 1959 endlich ihre 2. Lehramtsprüfung abgelegen durfte und anschließend in Lüneburg-Goseburg, dann an der Lüner Schule unterrichtete. Fünf Jahre später wurde sie – für 10 Jahre – „Ratsherrin“, Mitglied des Rates der Stadt Lüneburg. Ihr besonderes Interesse und ihr Engagement für die Spracherwerbsprobleme ihrer Schulkinder führte sie zur Sonderschule L (für lernbehinderte Kinder). Nun wurde sie im Alter von 55 Jahren erneut Studentin (Ausbildung zur Lehrerin im Bereich Sonderpädagogik- Sprachheilpädagogik), unterrichtete anschließend viele Jahre eine Sprachheilklasse und wurde nach Einführung der Sonderschule G (für geistig behinderte Kinder) deren Konrektorin (mit 61 Jahren!), wohin sie wegen ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit der Einrichtung der Lüneburger „Lebenshilfe“ berufen wurde.
Ein weiteres Mal startete Sonja nach ihrer Pensionierung durch: Die lokale Geschichtsarbeit über die NS-Verbrechen stand für sie im Vordergrund und selbst als über 90-Jährige war sie als Vortragende in Bildungseinrichtungen zu finden, zuletzt im März 2016 vor etwa 500 Schülern:innen der Herderschule. Weiter im Juni desselben Jahres (nach Vollendung ihres 100. Lebensjahres!) vor der Literarischen Gesellschaft Lüneburg. Unvergessen auch ihr Auftritt am 24. Juni 2007, als sie bei einer Protestveranstaltung gegen einen Aufmarsch der NPD im Clamartpark, über Lautsprecher weit hörbar, erklärte:
„Nun bin ich bereits 90 Jahre alt und stehe wieder hier vor Euch, um mit Euch gegen die Aufmärsche der NPD-Anhänger und ihrem Dasein zu protestieren.
16 Jahre war ich alt, als die Nazizeit begann. Ich musste die Schule verlassen, weil meine Mutter Jüdin war, habe durch falsche Angaben immer wieder irgendwie durchkommen können. Dass ich nicht ins Konzentrationslager kam wie meine Schwester Helga oder meine Großmutter, verdanke ich Antifaschisten, die mir damals immer wieder geholfen hatten. Erst nach dem Krieg, 1945 und somit nach der Nazizeit, konnte ich endlich ohne Angst vor Verfolgung leben, konnte mein Abitur nachholen und studieren. Damals glaubten wir, dass es nie wieder den Faschismus geben kann. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass Neonazis weiter existieren könnten.“ Und sie erklärte weiter: „Es ist ein Skandal, dass diese Partei (die NPD) existieren kann und sogar bei genehmigten Aufmärschen polizeilich geschützt wird, so dass eine Gegendemonstration kaum möglich ist! Faschismus, Rassismus und Antisemitismus sind keine Meinung, der eine Freiheit zugestanden werden darf.“
In diesem, ihrem dritten, Lebensabschnitt, bereiste sie ebenfalls die Welt, kaum ein Kontinent wurde ausgelassen, Verwandtenbesuche, Kontakte zu ihren Esperanto- Freunden:innen wurden gepflegt. Lange bevor der Terminus „Couchsurfing“ bekannt wurde, schlief sie bereits auf den Sofas ihrer Gastgeber rund um den Globus. Sprache? Kein Problem. Englisch, französisch und Esperanto beherrschte sie und das reichte dicke aus. Freunde:innen aus aller Herren/Frauen Länder waren bei ihr zu Gast in ihrer Mehrgenerationen-Wohngemeinschaft in Lüneburg, Unter der Burg, wo sie zu Hause ist gemeinsam mit Nicol und Georg, deren Kindern sowie der „Urenkelin“.
Kein Wunder also, dass bei ihrer Feier zum 100. Geburtstag über 160 Gäste aus vielen Staaten Europas und darüber hinaus zugegen waren. Was für ein Leben!
Übrigens: Seit einigen Jahren gibt es in Lüneburg ein „Sonja-Barthel-Haus“. Die sozialistische Jugendorganisation „Die Falken“ hat das Gebäude ihrer Unterkunft in der Lauensteinstr. 1 / Ecke Am Springintgut nach Sonja benannt – antifaschistisches Engagement verbindet!
Es gab viele Anlässe zu denen wir mit Sonja „die alten Lieder“ (die immer noch aktuell sind) gesungen haben, von „Avanti Popolo“ bis zu „Dem Morgenrot entgegen“. Dabei war Ihre Stimme, nie zu überhören.“

Ihre Lebenserinnerungen schrieb Sonja als knapp 90 Jährige auf und veröffentlichte sie unter dem Titel „Wie war das damals, erzähl doch mal“
Diese Autobiografie kann bestellt werden unter
info@geschichtswerkstatt lueneburg.de

Zur Erinnerung einige Fotos aus den letzen Jahren